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Von William Hollister.

Die verbotenen Bücher von Prag

Samisdat : Zensur vor der sanften Revolution

Vor rund 15 Jahren kam in der früheren Tschechoslowakei die Ära des SAMISDAT zu Erliegen. Bis dahin, bis 1989, war das Schreiben und Drucken und der Vertrieb von Literatur im Großteil des kommunistischen Europas von der Zensur behindert oder völlig verboten worden.

Unterhalb dieser Decke des Schweigens aber, und insbesondere während jener 20 Jahre, die der so genannten „Sanften Revolution“ vorausgingen, brodelte eine dynamische Kultur im Untergrund. Jetzt, da dieses Kulturschaffen der Vergangenheit angehört, obliegt es jenen, die einst an dieser Bewegung des Schreibens und Publizierens von Literatur im Verborgenen teilnahmen, eine Dokumentation dieser Tätigkeiten für zukünftige Generationen zusammenzustellen und aufzubewahren. Eine der kohärentesten Sammlungen solcher Literatur befindet sich in der „Bibliothek der verbotenen Bücher“ – der so genannten Libri Prohibiti – in Prag.

Dort, in einer Wohnung im zweiten Stock im Geschäftszentrum der Stadt, stehen sie – rund 25.000 Bücher, Broschüren, Kataloge, Kunstwerke und Filme, säuberlich geordnet und aufgeteilt auf etliche kleine Räume. Während die Bände ein Labyrinth von Ideen darstellen, in dem die Hälfte des 20. Jahrhunderts eingefangen ist, wirken die Objekte, die auf einem sauberen Holztisch zum Lesen ausgelegt werden, wie Reliquien aus einer längst vergangenen Zeit: vergilbt und brüchig, auf krümeligem, altem Papier, dünn wie Zwiebelhäute, denen jedoch das virtuelle Gewicht eigenhändig getippter Dokumente anhaftet, gebunden auf verschiedenerlei Art. Manche Gedichtbände sind Loseblattausgaben im Schuhkarton, mit einfachsten Ausschmückungen im Blockdruck, andere Editionen sind nummeriert.

Der frühere tschechische (und tschechoslowakische) Präsident und Stückeschreiber Václav Havel ist hier vertreten, mit dem hübsch gebundenen Einakter „Protest“ unter der Nummer 89 von Edice Expedice. Das Buch des Philosophen Jan Patočka, „Der Schriftsteller und seine Sache – Eine Studie über Literatur“, kam ein Jahr, nachdem der Autor in Polizeigewahrsam verstorben war, bei Edice Quart heraus. Der Verleger von Edice Petlice („der Griff“), Ludvík Vaculík, publizierte sein „Buch der Träume“ in einem dicken, von Hand getippten Band mit Fotos, der dem Künstler Jiří Kolář gewidmet ist. Das auch heute noch existierende tschechische Literaturblatt „Revolver Revue“ ist drucktechnisch ausgereifter. Ivan Klímas „Meine fröhlichen Morgen“ besteht aus wunderschön in blauen Stoff gebundenen Bänden samt einem mit dicker, weißer Farbe von Hand gemalten Emblem auf dem vorderen Buchdeckel.

Wenn Neugierige sich nach dieser exzentrischen Literatursammlung erkundigen, dann, so sagt Bibliotheksgründer Jiří Gruntorad, zeigt er ihnen gerne den massiven, von Hand getippten Wälzer „Der Herr der Ringe“ von Tolkien. „Er spricht Bände – und sagt mehr über Samisdat aus als jedwede stundenlange Diskussion. Irgendjemand hat das übersetzt und irgendjemand anders hat es abgetippt, das ganze Ding, noch dazu auf einer mechanischen Schreibmaschine. Warum, so muss man sich doch ernsthaft fragen, konnte ein solches Buch nicht einfach veröffentlicht werden?“

Jiří Gruntorad sitzt in seinem Büro in der Bibliothek an einem Tisch vor einem großen, weißen Computerbildschirm aus dem 21. Jahrhundert. Der Drucker steht in einer Kiste zu seinen Füßen. Sein Büro ist voll geräumt mit Pamphleten und Büchern – nur einem Bruchteil der 25.000 Bände seiner Bibliothek. Es bereitet ihm großes Vergnügen, über die Sammlung zu sprechen, ihren Ursprung, ihren Zweck, ihre Zukunft.

Gruntorad gründete die Libri Prohibiti nach dem Fall des kommunistischen totalitären Regimes im Jahr 1989. Ursprünglich galt sie ihm nur als eine Art Sammelstelle für all jene Dokumente, die er in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten zusammengetragen hatte. Aber durch Zuwendungen von Mitstreitern und Freunden ist die Bibliothek weiter angewachsen und umfasst inzwischen auch Sammlungen anderer Personen, wie etwa die persönlichen Bibliotheken der Gründer des Zentrums für Theoretische Studien, Ivan Chvatik und Ivan M. Havel. Zudem beherbergt die Bibliothek Dokumente über die Charta 77, darunter auch jenes, das ursprünglich zur Unterstützung der Rock-Gruppe „Plastic People of the Universe“ aufrief, sich aber als ein wegweisendes Menschenrechtsdokument entpuppte, weil es unter anderem das Recht auf ein authentisches Leben forderte. Diese Unterlagen sind Zeugen der Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen in der früheren Tschechoslowakei und dem gesamten sowjetischen Block.

Der Ausdruck „Samisdat“ ist russischen Ursprungs und bedeutet so viel wie „selbst publiziert“. Er kam in den fünfziger Jahren das erste Mal auf. Obwohl er beispielsweise in Polen seinen russischen Subtext niemals ganz verlor und dort von Dissidenten nicht verwendet wurde, übernahm man den Begriff in der Tschechoslowakei ohne großes Federlesen, um damit die Werke von Personen zu kennzeichnen, deren publizistische Existenz effektiv ausgelöscht worden war, aus keinem anderen Grund als dem, dass sie ihre Oppositionshaltung gegen die Regierung kundgetan hatten. Während aber die Zensur in anderen kommunistischen Ländern brennendes Interesse am Inhalt des Samisdats an den Tag legte, schenkten sie in der Tschechoslowakei diesem so gut wie keine Aufmerksamkeit.

Das Interesse des Bibliothekars Gruntorad an der Literatur geht auf das Jahr 1968 zurück, als er, damals ein 16-jähriger Fan der Folk-Musiker Vladimir Merta, Jaroslav Hutka und Vlastimil Tresnak, zum scharfsinnigen Beobachter der Ereignisse rund um die sowjetische Invasion seines Heimatlandes wurde. Er bedauerte, dass die Art von Literatur, die er gerne lesen wollte, nun nicht mehr greifbar war. Doch erst als er anfing, als Maurer auf dem Bau zu arbeiten, wurde er sich der Existenz einer rasch zunehmenden Flut von inoffiziellen Druckwerken innerhalb der totalitären Tschechoslowakei bewusst.

„Ich war gerade dabei, ein Loch zu reparieren, das die Arbeiter in der Wohnung von Václav Benda hinterlassen hatten, als ich dort auf ganze Stapel von Samisdat-Literatur aufmerksam wurde.“ Er erkundigte sich bei Bendas Frau, Kamila Bendová, danach und erfuhr nicht nur, dass es ein ganzes Netzwerk von Leuten gab, die sich mit dieser Literatur befassten, sondern auch von der Charta 77.

Zu jenem Zeitpunkt gab es noch relativ wenige Samisdat-Werke – die Buchauflagen bewegten sich bezeichnenderweise in einer Höhe von 20 bis 30 Exemplaren. Gruntorad schloss sich der Bewegung an, indem er zunächst kürzere Werke oder Gedichtbände auslieh und anfing, mit einer Reiseschreibmaschine Jaroslav Seiferts „Pestglossen“ abzutippen. Mit Kohlepapier konnte er die Arbeit auf bis zu 13 Kopien steigern und mit vernünftigen Sammelmappen bekam er auch sein erstes Buch zusammen – in einer Verlagsserie, die sich schließlich zu Edice Popelnice entwickeln sollte.

„Popelnice – das ist so eine Art Behälter für jede Sorte von Abfall, überflüssigem Kram, für diesen ganzen Plastikmüll auf der Straße, der so gut wie nie eingesammelt wird“, erklärt Gruntorad. „Die meisten Untergrund-Verlage hatten solche Namen, die auf ‚ce‘ endeten. Natürlich gab es den etablierteren Petlice, aber es gab auch Expedice und sogar Moskova Mrtvice, was so viel wie ‚Moskauer Gehirnschlag‘ bedeutet“, fügt er lachend hinzu. Die Probleme mit dem Regime begannen 1978, als die Polizei seine Wohnung durchsuchte und ihn beschuldigte, eine illegale Handfeuerwaffe zu besitzen. Bei der Durchsuchung fanden die Beamten stattdessen seine Bücher und Magazine, die sie prompt konfiszierten. Als Gruntorad wenig später aus dem Gefängnis entlassen wurde, beschloss er, in großem Stil ins Verlagswesen im Untergrund einzusteigen.

Wenn die Literatur auch nur irgendwie für riskant befunden wurde, etwa wenn man Texte von Personen wie Egon Bondy veröffentlichte, und bei dieser Verlegertätigkeit wiederholt erwischt wurde, so war die Strafe entsprechend hart: vier Jahre Knast im Minkovic-Gefängnis. Als Gruntorad auf Bewährung freigelassen wurde, war er verpflichtet, sich neunmal in der Woche bei der Polizei zu melden und seine Wohnumgebung nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr zu verlassen.

<Verlage im Untergrund

Der große, weiße Computer auf Gruntorads Schreibtisch bildet einen scharfen Kontrast zu den schwarzen Maschinen, die überall verstreut in der Bibliothek herumstehen. Die interessanteste davon ist ein 50 Jahre alter Wachsmatrizendrucker mit zwei Tintenrollen, die durch einen Keilriemen verbunden sind und eine gleichmäßige Verteilung der Druckerschwärze auf der Walze ermöglichen. Es war diese Art von Druckmaschine, die dem tschechoslowakischen Verlagswesen im Untergrund zum Durchbruch verhalf. Als diese Geräte in den späten siebziger Jahren zum Einsatz kamen – meistens waren sie aus alten Dorfschulen ausgemustert worden – nahm die Produktion solcher Dokumente geradezu exponentiell zu. Zusätzlich kamen neue Literaturmagazine wie „Vokno“ und „Revolver Revue“ auf, womit die Parallel Polis, die Gegengesellschaft, in den achtziger Jahren aufzublühen begann.

Und wie sieht das nun alles im Rückblick aus? In der Bibliothek befinden sich in Summe tschechische und slowakische Samisdat-Literatur der Jahre 1960 bis 1989. Über all den modernen Märchen, den sokratisch-philosophischen Essays und der Punk-Lyrik, die sich auf den Regalen der Libri Prohibiti drängeln, steht, so meint Gruntorad, eine einfache Botschaft: „Der Präsident der Republik meint, er benötige nur einen kleinen Rückspiegel“, so Gruntorad. “Er will nicht nach hinten sehen. Ich aber habe dazu eine andere Meinung: Indem man zurückblickt, kann man erkennen, was tatsächlich passiert ist und wie die Menschen wirklich gelitten haben. Diese Publikationen sind der Beweis dafür.“




Übersetzung: Tom Appleton


William Hollister (geboren 1963) ist US-Amerikaner, lebt und arbeitet seit einem Jahrzehnt in der Hauptstadt der Tschechischen Republik. Gegenwärtig agiert er als English Editor für „Umělec International Magazine“, einer in Prag beheimateten Kunstzeitschrift, die sich der Weltkunstszene aus einer zentraleuropäischen Perspektive nähert.

Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Februar 2005
> Link: REPORT online